Newsletter TRANSFERkompakt September 2023

Interview: Arbeiten „an einem Strang“ – partizipative Entwicklung einer Bildungsstrategie.

Die Transferagentur Niedersachsen begleitet den Landkreis Lüchow-Dannenberg bereits seit 2015. Landrätin Dagmar Schulz hat – damals noch als Fachdienstleitung Jugend, Familie und Bildung – die Einführung des datenbasierten kommunalen Bildungsmanagements (DKBM) von Beginn an unterstützt und unter anderem die partizipative Entwicklung einer Bildungsstrategie maßgeblich vorangetrieben. Dabei war es ihr immer ein Anliegen, möglichst viele Bildungsakteur:innen miteinzubeziehen – in einem so großen und ländlich geprägten Landkreis wie Lüchow-Dannenberg durchaus eine Herausforderung. Wie es gelungen ist, dass alle „an einem Strang“ gearbeitet haben, und wie die Transferagentur Niedersachsen den Prozess unterstützt hat, verrät sie uns im Interview.

Transferagentur (TA): Frau Landrätin Schulz, welche Mehrwerte sehen Sie im DKBM und inwiefern profitieren Sie davon?
Landrätin Dagmar Schulz (DS):
Bildung und Ausbildung sind die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben und mit dem lebenslangen Lernen auch Teil der Daseinsvorsorge. Gute Bildungsvoraussetzungen zu schaffen, auch im Sinne der Bildungsgerechtigkeit, ist dem Landkreis Lüchow-Dannenberg ein besonderes Anliegen. Damit eine ziel- und adressatengerechte Angebotsstruktur und Vernetzung entwickelt werden kann, sind Zahlen, Daten und Fakten unerlässlich. Die Erfahrung und Unterstützung der Transferagentur Niedersachsen ist ein wesentlicher Beitrag für den Landkreis, einen strukturierten und nachhaltigen Prozess gestalten zu können.

TA: Im Rahmen des DKBM-Prozesses wurde  unter breiter Beteiligung aller Leitungen der Kindertagesstätten, der Grundschulen und Vertreter:innen der Landkreisverwaltung  ein Konzept mit gemeinsamen Standards und Indikatoren zur Gestaltung des Überganges KiTa-Grundschule erarbeitet. Bitte beschreiben Sie diesen Prozess und welche weiteren Gelingensfaktoren es für einen reibungslosen Übergang zwischen Kita und Grundschule in einem Flächenlandkreis wie Lüchow-Dannenberg gibt.
DS:
Wir haben zunehmend gemerkt, dass die Kinder in den ersten Klassen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen ankommen. Im Extrem haben einige Kinder ihre Sprachbildung noch nicht abgeschlossen oder müssen die deutsche Sprache noch erlernen, um sinnentnehmend dem Unterricht folgen zu können. Andere Kinder können teilweise schon schreiben. Eine allen Kindern gerecht werdende Binnendifferenzierung im Unterricht ist dabei schlichtweg nicht möglich und stellt die Lehrkräfte vor unüberwindbare Herausforderungen. Dabei ist der Start in die Grundschule in der Bildungskette enorm wichtig. Wenn dieser gut gelingt, sind die Chancen für einen Schulabschluss relativ gut. Wenn allerdings der Start in die Grundschule schon problembehaftet ist, wird es immer schwieriger, diese Defizite aufzufangen. Daher ist die frühkindliche Bildung in den Kindertagesstätten so wichtig. In der Verständigung der Voraussetzungen und Erwartungen der Grundschulen und dem Austausch der jeweiligen Einrichtungen liegt der Schlüssel für die Gestaltung guter Übergänge. Die Schaffung von Standards sowie die strukturierte Begleitung im Übergang der Lebensphasen bilden hier die Voraussetzungen für den weiteren Bildungsweg. Dafür braucht es insbesondere wesentlich bessere Rahmenbedingungen für die Kindertagesstätten und endlich eine bezahlte duale Ausbildung für die Erzieherinnen und Erzieher.

TA: Welche Vorteile, aber auch Herausforderungen sehen Sie bei der Durchführung eines solchen partizipativen Prozess und wie ist es Ihnen gelungen, diesen zu begegnen?
DS:
Es ist immer eine Herausforderung, wenn bestehende Systeme kompatibel gestaltet werden sollen. Es braucht Offenheit, Veränderungsbereitschaft und auch ein Hinterfragen eigener Prozesse. Letztendlich hatten wir aber ausschließlich positive Rückmeldungen. Das intensive gemeinsame Arbeiten der Kindertagesstätten mit den Grundschulen und der Kreisverwaltung hat zu einem Verständnis für die jeweiligen Rahmenbedingungen und Anforderungen geführt. Damit konnten gute Anknüpfungspunkte zur Gestaltung der gemeinsamen Arbeit gefunden und letztendlich zu konkreten Verabredungen, Indikatoren und Standards entwickelt werden.

TA: In einem nächsten Schritt hat sich der Landkreis dann entschieden, gemeinsam eine Bildungsstrategie zu erarbeiten. Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass Kommunen strategische Bildungsziele entwickeln, und warum ist auch hier ein partizipativer Prozess hilfreich?
DS:
Wenn man als Ziel das Arbeiten „an einem Strang“ als erfolgreiches Modell umsetzen möchte, braucht es ein Verständnis dafür, was denn dieser gemeinsame Strang ist – woraus er besteht, wie er zusammengesetzt ist, wer woran arbeitet und so weiter. Es braucht ein gemeinsames Verständnis für den Bildungsbegriff, das Zusammenführen vieler verschiedener Sichtweisen und Anforderungen sowie die Vielfalt der Akteur:innen mit ihren jeweiligen Schwerpunkten, damit feste und verlässliche Strukturen entstehen können. Und die braucht es in der Kontinuität, aber auch mit dem Verständnis eines lernenden Systems, das sich den sich laufend verändernden gesellschaftlichen Bedarfen und Bedürfnissen anpassen kann.

Zur Person

Name: Dagmar Schulz
Tätigkeitsbeschreibung: Landrätin
Tätigkeitsbeginn: 1. November 2021

TA: Welche Bildungsthemen werden zukünftig für den Landkreis relevant und wie unterstützen Sie DKBM-Instrumente wie die Sozialplanung dabei?
DS: Nach Corona haben wir jetzt in vielen Studien die gravierenden Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche bestätigt bekommen. Die Zahl der schulabbrechenden Jugendlichen hat sich zwei Jahre hintereinander verdoppelt und es gibt einen eklatanten Anstieg von psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Gerade heute wurde bekannt, dass sich die Zahl der Schulbegleiter:innen, die Kinder mit individuellem Förderbedarf unterstützen, seit Einführung der integrativen Schule im Schuljahr 2013/14 von 3.000 auf über 8.500 erhöht hat. Und die Ausgaben der Landkreise und der Region Hannover für diese sogenannten Integrationshelfer:innen haben sich in den acht Jahren von damals 62 Millionen Euro auf 200 Millionen Euro im Schuljahr 2021/2022 mehr als verdreifacht. Im Bereich der Jugendhilfe ist sogar eine Vervierfachung der Fallzahlen zu verzeichnen (SGB VIII). Hier braucht es dringend die Entwicklung geeigneter Maßnahmen – nicht nur vor dem menschlichen Hintergrund, sondern auch vor dem Hintergrund des Fachkräfte- und mittlerweile insgesamt des Arbeitskräftemangels. Dafür ist ein datenbasiertes kommunales Bildungsmanagement unerlässlich, auch im Sinne einer integrierten Sozialplanung in der Verbindung und engen Verzahnung der Säulen Gesundheit, Soziales und Jugendamt. Deutlich wird das am Beispiel der Schulsozialarbeit. 2021 ist sie nach langen Jahren mit dem §13a des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes endlich explizit erfasst und rechtlich verortet worden. Und immer wieder ist die Finanzierung der Maßnahmen ein Thema. Jeder junge Mensch, der nicht in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt selbst zu gestalten, braucht die sozialen Sicherungssysteme. Wenn man diese Kosten hochrechnet, kann man sehr viel Geld in die „frühen Hilfen“ – früh im Alter und früh im Fall – investieren. Auch diese Analysen sind Bestandteil des DKBM.

TA: Wie können diese relevanten Bildungsthemen zukünftig in die Praxis umgesetzt werden?
DS:
Ich glaube tatsächlich, dass wir eine grundsätzliche Reform unseres Bildungswesens benötigen. Die Kernfrage ist, welche Kompetenzen die jungen Menschen zukünftig brauchen, um die notwendigen Klimafolgenanpassungsprozesse bewältigen zu können. Und nach Klärung dieser Frage muss erarbeitet werden, wie man diese Kompetenzen entsprechend zielführend vermitteln kann. Wir merken, dass wir immer öfter und sehr kurzfristig neue Herausforderungen und Problemlagen schnell bearbeiten und lösen müssen. Das braucht sehr viel Flexibilität und Kreativität, aber auch mehr Alltagskompetenzen. Wir müssen lernen, mit permanenten Unsicherheiten in unserem Leben umgehen zu können. Und die Anforderungen an Berufe der Zukunft stellen sich in immer kürzeren Zeitabständen. Gerne würde ich als Modellregion mit ein bis zwei Schulen daran arbeiten, Curricula der Zukunft in der Praxis zu erarbeiten und modellhaft zu erproben. Auch für diese Bedarfe braucht es ein datenbasiertes kommunales Monitoring. Abschließend kann ich jeder Kommune nur empfehlen, ein datenbasiertes kommunales Bildungsmanagement aufzubauen. Die Transferagentur Niedersachsen hat diesen Prozess in den letzten Jahren bei uns nicht nur unterstützt, sondern überhaupt erst möglich gemacht. Danke!

Wir danken Ihnen herzlich für das Interview, Frau Landrätin Schulz!